18.02.2025
(bearbeitet: 19. u. 20.02.)
Am 15. Januar diesen Jahres ist mein Doktorvater Harald Euler im Alter von 81 Jahren verstorben.
Von 2002 an war ich sein Student an der Universität Kassel. Er machte mich 2007 zu seiner studentischen und dann wissenschaftlichen Hilfskraft, dann 2008 zu seinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter und Doktoranden am Institut für Psychologie der Universität Kassel. 2011 schloss ich meine Doktorarbeit im Fach Psychologie ab. Ich war sein letzter Wissenschaftlicher Mitarbeiter vor seinem Ruhestand sowie sein letzter Doktorand.
Auch nach der gemeinsamen Zeit in Kassel blieben wir verbunden und arbeiteten oft und gut zusammen. Wenn ich richtig gezählt habe, komme ich mit ihm auf 20 gemeinsame Publikationen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften und Sammelbänden und nochmals 20 gemeinsame Vorträge und Tagungsbeiträge. Die letzte Zusammenarbeit war zwischen 2021 und 2022, als er zu meiner Freude meinem Vorschlag zustimmte, seine Daten zu Geschlechterunterschieden in der Eifersucht, die er über etliche Jahre gesammelt hatte, noch gemeinsam zu veröffentlichen (Euler & Lange, 2022). Die erste gemeinsame Publikation hatten wir im Jahr 2010 (Lange & Euler, 2010).
Ich möchte das Leben, aber vor allem die wissenschaftlichen Leistungen meines ersten großen wissenschaftlichen Förderers Harald mit diesen Worten würdigen.
Harald Euler wandte sich früh einer Darwinistischen Sicht auf menschliches Erleben und Verhalten (also der Evolutionären Psychologie und Soziobiologie) zu – und dies zu einer Zeit, als derartige Ansätze und entsprechende Überlegungen regelrecht ketzerisch waren. Haralds vermutlich wichtigste evolutionspsychologische Publikation, nämlich zu großelterlicher Fürsorge, erschien 1996 (Euler & Weitzel, 1996).
Wer zu dieser Zeit als Feuerschlucker der Psychologie – im Sinne von Freak – gelten wollte, der wäre mit Haralds Weg gut beraten gewesen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Diese Begriffe sollen ausdrücken, wie bedeutsam und gleichzeitig schwierig sein Paradigmenwechsel war – visionär, aber eben nichts, womit man sich beliebt machte.
Wer sich in der Psychologie auskennt und weiß, dass Harald eigentlich gelernter Behaviorist und Lernpsychologe war, kann abschätzen, wie gewagt und gleichsam bedeutsam sein Paradigmenwechsel hin zur Evolutionären Psychologie war. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er diesen Wechsel noch im alten Jahrtausend vollzog. Für manche hatte dieser Wechsel den Status eines uni-internen Politikums – gerade vor dem Hintergrund seiner Wurzeln als Behaviorist und wenn man bedenkt, dass er Professor für Lernpsychologie war.
Aber dieser Weg war typisch für Harald: Er war speziell, eigen, ein Freigeist. Gewiss kauzig und schrullig, manchmal hart oder besser gesagt: streng. Mit Ecken und Kanten. Aber diese Worte sollten als Bewunderung zu verstehen sein all derer, die ihn kannten.
Harald musste immer seinen Mittagsschlaf halten. Dafür taugte eine Liege in einem Abstellraum oder eine Iso-Matte zwischen den Palmen im französischen Montpellier auf einer der zahlreichen Tagungen, auf denen Harald war und wo er den wissenschaftlichen Nachwuchs um sich scharrte. Er war oft sonderbar, aber in sich schlüssig.
Ich als sein letzter Doktorand bekam nach nur einem Jahr die tatsächlich ernst gemeinte Frage von ihm gestellt, wann ich denn endlich mit meiner Doktorarbeit fertig sei. Aber er war ein wirklicher Förderer des wissenschaftlichen Nachwuchses – zwar hart, aber fair. Auch mal über Grenzen hinausgehend, ja. Fordernd, aber auch fördernd. Mit einem Auge für wissenschaftliches Talent.
Noch als Student, aber schon mit merklichem Interesse für die große Wissenschaft konnte man einfach zu ihm kommen und teils Stunden lang mit ihm “Wissenschaft machen”. Einigermaßen uneigennützig nahm er einen unter seine Fittiche. Und wenn es an einem Abend in seinem Büro spät wurde, ließ er es sich nicht nehmen, einen nach Hause zu fahren. Oder er lud zu sich nach Lohfelden ein, um gemeinsam an einem Artikel zu arbeiten. Fordernd, hart und streng, auch mal gefühlt unnahbar – aber eben auch fördernd, fair und großzügig und ja: auch freundschaftlich. Elitär, doch auch inkludierend. Und ein großartiger Lehrer. Ich wüsste kaum einen anderen Wissenschaftler, von dem ich so viel gelernt habe wie von ihm und vor allem: keinen, der mich so früh so geprägt hat.
Neben allen Besonderheiten seiner Persönlichkeit war Harald vor allem dies: Wissenschaftler durch und durch. Evidenz stand über Ideologie – Belege standen über liebgewonnenen Ideen. Moralistische Fehlschlüsse lagen ihm fern. Und so wandte er sich, wie eingangs bereits dargelegt, einer konsequenten biologisch-evolutionären Sicht auf die menschliche Psyche zu.
Seine Impulse für die entsprechende Forschung waren immens: Emotionen, Aggression und Gewalt, Geschlechterunterschiede, Partnerwahl, Eifersucht und Familienpsychologie (inklusive der angesprochenen großelterlichen Fürsorge) – zum evolutionspsychologischen Verständnis all dieser Themenfelder trug Harald wesentlich bei. Selbst Religiosität fand – wenn auch eher spät – ihren Weg auf Haralds reich gedeckten Tisch der wissenschaftlichen Themen. Dass er privat ein begeisterter Koch war, mag diese Metapher besonders passend erscheinen lassen. Seine Abschiedsvorlesung an der Universität Kassel anlässlich seines Ruhestandes im Jahr 2009 hielt er übrigens zu Religion als natürliches Phänomen.
Harald war ansonsten sehr aktiv unter anderem in der Stotterforschung und der kindlichen Sprachentwicklungsdiagnostik. Besonders würdigen möchte ich an dieser Stelle aber vor allem seine Verdienste für die Evolutionäre Psychologie. Es gibt keinen, behaupte ich, evolutionär denkenden Human-, Verhaltens- oder Sozialwissenschaftler im deutschsprachigen Raum, der den Namen Euler nicht kennt.
In Form zahlreicher Medienauftritte trug er sein immenses Wissen auch in die Allgemeinbevölkerung und konnte so auch mit einigen Missverständnissen aufräumen. Sein Auftritt in der bekannten TV-Sendung “hart aber fair” im Jahre 2009 zu Geschlechterunterschieden sei exemplarisch genannt. 2010 nahm er mich als seinen Assistenten mit zu einem seiner TV-Auftritte. Wenig später begann ich selbst damit, regelmäßig im Fernsehen als wissenschaftlicher Experte für menschliches Erleben und Verhalten aufzutreten. Meinen ersten Medienauftritt im Jahr 2007 als Interviewpartner des Print-Magazins Glamour hatte ich, als ich noch Student war – vermittelt von Harald Euler.
Haralds Vorlesungen: teils legendär. Der Hörsaal: oft bis auf den letzten Platz gefüllt, teils Schlangen bis aus dem Hörsaal-Gebäude hinaus. Witzig, unglaublich informativ, scharfsinnig. Meine erste Vorlesung als Student bei ihm ließ mich denken: Das würde ich später auch gerne tun – Vorlesungen halten. Und so kam es. Ohne ihn wäre ich nicht, was ich heute bin.
Wissenschaftlich war Harald stets korrekt, ein evidenzbasiert arbeitender Wissenschaftler eben, und ansonsten vielleicht auch mal politisch inkorrekt. Seine Studenten wurden allesamt von ihm geduzt. Man durfte ihn zurückduzen – doch kaum einer wagte es bei dieser Respektsperson. Und doch war der für viele harte Hund auch noch nach Jahrzehnten des Professorendaseins vor jeder Vorlesung wenigstens ein klein wenig nervös, wie ich als sein letzter Wissenschaftlicher Mitarbeiter mehrmals erleben konnte.
Ich möchte zum Abschluss den Bogen zu meinen eingangs gewählten Worten schlagen: Wissenschaftlich wandelte sich Harald zum Naturalisten. Im Einklang damit war seine Liebe zur Natur. Über Apfelbäume und Hühnerzucht konnte er galant referieren und fand immer den Bezug zum menschlichen Verhalten. Es war seine Sicht auf das Große und Ganze. Mit Weitblick, ein Visionär. Auch vermittelnd: Das Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur versöhnend würde er – der Behaviorist und Lernpsychologie, der sich selbst zum biopsychosozialen Verhaltenswissenschaftler transformierte – an dieser Stelle vermutlich besänftigend einwerfen, dass auch Lernen eine evolutionäre Struktuvorgabe ist und dass auch die Lerngesetze nur im Lichte der Evolution Sinn ergeben.
Wer die theoretische Zerstückelung der Psychologie (und ihre Fokussierung auf “Klein-Klein”) betrachtet, mag sich fragen, warum nicht mehr Haralds frühen Mut und interdisziplinären Weitblick hatten und haben, die bedeutendste wissenschaftliche Theorie, nämlich die des Darwinismus, der Darwin'schen Evolutionstheorie, auf die menschliche Psyche anzuwenden. Aber er hat unzählige Jungwissenschaftler inspiriert, die seinen Weg weitergehen. Sie sind sein Vermächtnis, sein wissenschaftlicher Nachlass – und sie werden ihn und seine Verdienste in Ehren halten.
Für mich war er: Mentor, Doktorvater, väterlicher Freund, bedeutender Wissenschaftler. Er wird fehlen.
Cheers
BPL
(Gemeinsame) Publikationen (Auswahl):
Euler, H. A. (2004). Die Beitragsfähigkeit der evolutionären Psychologe zur Erklärung von Gewalt. In W. Heitmeyer & H.-G. Soeffner (Hrsg.), Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme (S. 411-435). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Euler, H. A. (2004). Genspur aus der Steinzeit. Psychologie der Vaterschaftsungewissheit. In H. Haas & C. Waldenmaier (Hrsg.), Der Kuckucksfaktor. Raffinierte Frauen? Verheimlichte Kinder? Zweifelnde Väter? (S. 323-330). Prien: Gennethos e. K. Verlag.
Euler, H. A. (2004). Sexuelle Selektion und Religion. In U. Lüke, J. Schnakenberg & G. Souvignier (Hrsg.), Darwin und Gott. Das
Verhältnis von Evolution und Religion (S. 66-88). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Euler, H. A. (2009). Evolutionäre Psychologie. In V. Brandstätter & J. H. Otto (Hrsg.), Handbuch der Allgemeinen Psychologie - Motivation und Emotion (S. 405-411). Göttingen: Hogrefe.
Euler, H. A. (2009). Menschliches Handeln und Verhalten in evolutionspsychologischer Perspektive. In N. Goldschmidt & H. G. Nutzinger (Hrsg.), Vom homo oeconomicus zum homo culturalis. Handlung und Verhalten in der Ökonomie (S. 39-59). Kulturelle Ökonomik, Band 8. Münster: LIT-Verlag.
Euler, H. A. (2010). The psychology of families. In U. Frey, C. Stoermer & K. P. Willfuehr (Eds.), Homo Novus – A Human without Illusions (pp. 161-179). Berlin: Springer.
Euler, H. A. (2013). Evolutionäre Entwicklungspsychologie. In L. Ahnert (Hrsg.), Theorien in der Entwicklungspsychologie (S. 60-93). Berlin: Springer.
Euler, H. A. (2015). Geschlechterunterschiede. In B. P. Lange & S. Schwarz (Hrsg.), Die menschliche Psyche zwischen Natur und Kultur (S. 62-73). Lengerich: Pabst Publishers.
Euler, H. A. & Hoier, S. (2008). Die evolutionäre Psychologie von Anlage und Umwelt. In F. J. Neyer, & F. M. Spinath (Hrsg.), Anlage und Umwelt (S. 7-25). Stuttgart: Lucius & Lucius.
Euler, H. A. & Lange, B. P. (2018). Alles ändert sich und bleibt doch gleich – Geschlechterunterschiede zwischen Kultur und Natur. In C. Schwender, S. Schwarz, B. P. Lange & A. Huckauf (Hrsg.), Geschlecht und Verhalten aus evolutionärer Perspektive (S. 25-41). Lengerich: Pabst Science Publishers.
Euler, H. A., & Lange, B. P. (2022). Sex differences in human jealousy from an evolutionary perspective – An empirical analysis of cross-sectional questionnaire data from 1986 to 2008. Poster presentation at the XXV Biennal Conference of the International Society for Human Ethology (ISHE). Würzburg, Germany, July 25-29, 2022.
Euler, H. A., Lange, B. P., Schroeder, S., & Neumann, K. (2014). The effectiveness of stuttering treatments in Germany. Journal of Fluency Disorders, 38, 1-11. https://doi.org/10.1016/j.jfludis.2014.01.002
Euler, H. A., & Weitzel, B. (1996). Discriminative grandparental solicitude as reproductive strategy. Human Nature, 7(1), 39-59. https://doi.org/10.1007/BF02733489
Lange, B. P., & Euler, H. A. (2010). Sexual selection for literary displays. Poster at the 22nd annual meeting of the Human Behavior and Evolution Society, University of Oregon, Eugene, USA, June 16-20, 2010.
Lange, B. P., & Euler, H. A. (2014). Writers have groupies, too: High quality literature production and mating success. Evolutionary Behavioral Sciences, 8(1), 20-30. https://doi.org/10.1037/h0097246
Lange, B. P., Euler, H. A., & Zaretsky, E. (2016). Sex differences in language competence of 3- to 6-year old children. Applied Psycholinguistics, 37(6), 1417-1438. https://doi.org/10.1017/S0142716415000624
Lange, B. P., Schwab, F. & Euler, H. A. (2020). Emotionskonzepte der Evolutionspsychologie. In H. Kappelhoff, J.-H. Bakels, H. Lehmann, & C. Schmitt (Hrsg.), Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch (S. 73-80). Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05353-4_9
Lange, B. P., Schwarz, S., & Euler, H. A. (2013). The sexual nature of human culture. The Evolutionary Review: Art, Science, Culture, 4(1), 76-85.
Lange, B. P., Zaretsky, E., & Euler, H. A. (2016). Pseudo names are more than hollow words: Sex differences in the choice of pseudonyms. Journal of Language and Social Psychology, 35(3), 287-304. https://doi.org/10.1177/0261927X15587102
Lange, B. P., Zaretsky, E., Schwarz, S., & Euler, H. A. (2014). Words won't fail: Experimental evidence on the role of verbal proficiency in mate choice. Journal of Language and Social Psychology, 33(5), 482-499. https://doi.org/10.1177/0261927x13515886